C. Crevoisier: Atlas historique du Jura

Cover
Titel
Atlas historique du Jura.


Herausgeber
Crevoisier, Clément
Reihe
Cercle d’études historiques
Erschienen
Porrentruy 2012: Société jurasienne d'émulation
Anzahl Seiten
243 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Christoph Zürcher

Es ist eher selten, dass eine wissenschaftliche Publikation sofort beim Erscheinen ein Echo in der Tagespresse findet. Genau das war der Fall beim Atlas historique du Jura. Das Werk erschien im August 2012. Die offizielle Buchvernissage fand erst am 11. Oktober 2012 statt, und zwar in Biel und nicht etwa in Delsberg, Pruntrut oder Moutier. Bis Ende 2013 erschienen in den Tagesmedien rund 15 Besprechungen, was für ein wissenschaftliches Werk doch bemerkenswert ist.

Clément Crevoisier, aufgewachsen in Delsberg und heute wohnhaft in Yverdon, legt zusammen mit einer Gruppe weiterer junger Geschichtswissenschafter einen bemerkenswerten neuen Atlas zum Jura vor. Das Werk schliesst an die 1984 erschienene Nouvelle Histoire du Jura an, die heute vergriffen ist. Stand dieses Werk noch ganz unter dem Eindruck der bernisch-jurassischen Auseinandersetzungen und diente dazu, dem Jura eine «nationale Geschichte» zu geben, so versucht die Gruppe der 17 jungen Historiker (sowohl aus dem Berner Jura als auch aus dem Kanton Jura) in 21 Texten und rund 102 Karten (Kartengrafik von Jérôme Konrad), Grafiken und Tabellen neue Akzente zu setzen. Das Werk ist einer Initiative der historischen Kommission der Société jurassienne d’émulation zu danken, jener 1847 gegründeten Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft und Forschung über den Jura.

Im Bund vom 28. August 2012 wurde das Werk gar als «historisches Fundament für einen Grosskanton Jura» begrüsst. Diese Sicht ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Die Erscheinungszeit des Atlas war auch nicht ganz zufällig. 2013 sollte, erstmals seit den 1970er-Jahren, ein Juraplebiszit stattfinden. Falls das Volk des heutigen Kantons Jura und – wider Erwarten – auch jenes des Berner Juras beschliessen sollten, gemeinsam einen neuen, grösseren Kanton zu gründen, wäre die historische Basis bereits gelegt. Die Doppelabstimmung vom 24. November 2013 im Berner Jura und im Kanton Jura zeigte dann allerdings, vielleicht nur vordergründig, ein ganz anderes Bild. Grenzen hatten sich nicht aufgeweicht, die Mentalitäten sich nicht verändert. Der Kanton Jura sagte mit 79 % der Stimmen «Ja» zur Einleitung eines Verfahrens für die Bildung eines «Grosskantons» Jura, die Bernjurassier mit 74 % der Stimmen «Nein».

«Outil de réflexion» nennt der Herausgeber Crevoisier den Atlas, der den Jura in eine überregionale, bernische, schweizerische und internationale Perspektive stellen soll. Reflektiert werden soll vornehmlich über Grenzen, deren Veränderung und deren Aufhebung. «Der Begriff der Grenzen ist veränderlich und spiegelt Vorstellungen des Raums, die sich mit der Zeit verändern können», schreibt Dick Marty in seinem Vorwort. Der Tessiner hatte als Vermittler und Präsident der interjurassischen Versammlung viel dazu beigetragen, dass sich die Kantone Bern und Jura auf einen neuen Anlauf zur Lösung der Jurafrage einigen konnten. Das Werk biete in der Stunde, in der die betroffene Bevölkerung sich erneut zur Karte der Grenzen äussern könne, «dem Leser die Gelegenheit, einen neuen, historischen, differenzierten und aufgeklärten Blick auf die Region zu werfen». Wird der Anspruch erfüllt? Wird die Gelegenheit wahrgenommen?

Nun zunächst ein Blick in den Atlas. Visueller Auftakt sind die 16 künstlerisch perfekten Fotografien von Anaïs Schrameck, die den Raum abstecken, darunter Belfort, Biel und Basel. Ein Blick also, der über die Schweizer Grenze und über die Sprachgrenze hinausreicht. Ein Programm?

Gewollt ist die Umkehrung der Chronologie (présentation antichronologique), der Atlas beginnt also innerhalb seiner Teilbereiche mit der Darstellung der jüngsten Epochen, das Schlusskapitel ist eine Übersicht Avant l’an mil.

Das Werk ist aufgeteilt in sieben Teile von recht verschiedenem Gewicht: Territoires institutionnels et mobilité – Territoires économiques – Territoires politiques – Territoires religieux – Avant l’an mil – Topographie – Cartographie dans l’histoire. Im Mittelpunkt stehen die Karten und Grafiken (beeindruckend präzis und aussagekräftig sowie ästhetisch ansprechend). Die Kommentare sind kurz und aussagekräftig, wo nötig finden wir eine Chronologie (etwa eine Liste der Bischöfe von Basel), am Schluss des Kapitels folgt die Bibliografie.

Greifen wir einige interessante Darstellungen heraus. Instruktiv ist beispielsweise die Darstellung des Werdens des Strassen- und Bahnnetzes im Teil Territoires institutionnels et mobilité. Breiten Raum nimmt die Darstellung der demografischen Entwicklung ein, die richtigerweise mit der Industrialisierung des Juras verknüpft wird. Sie bezieht zu Vergleichszwecken auch die demografische Entwicklung des «alten Kantonsteils» ein. Der Aufschwung der Uhrenindustrie liess die jurassischen Distrikte teilweise zu den stärksten Wachstumszentren des Kantons werden. Später machten die Umbrüche in der Uhrenindustrie die Region der sieben jurassischen Amtsbezirke und Biels verwundbar: 1970 arbeiteten rund 41 000 Personen in der Uhrenindustrie, 1990 noch knapp 7000, wobei allerdings die Wertschöpfung sich vervielfacht hat.

Das Kapitel Territoires politiques wird eingeleitet mit der Darstellung der Juraplebiszite 1959, 1970, 1974, 1975 und 1978 (eidgenössische Abstimmung über die Schaffung des Kantons Jura).

Auffällig bei diesem Vergleich: Die Veränderung der Stimmanteile in den ehemaligen sieben jurassischen Amtsbezirken ist sehr klein in diesen rund zwanzig Jahren. Das Gleiche gilt, wie oben vermerkt, auch für die Abstimmung von 2013. Dann geht der Blick zurück zur kurzlebigen Raurakischen Republik und zum Département du Mont-Terrible und schliesslich zum Fürstbistum Basel.

Eindrückliches Anschauungsmaterial zur Geschichte der Region und zur Veränderbarkeit von Grenzen bietet das Kapitel Territoires religieux. Bekanntlich war das Fürstbistum Basel keineswegs identisch mit der Diözese Basel, die in allen Epochen wesentlich grösser war. Das Bistum Basel reicht heute bis ins Wallis, an den Vierwaldstättersee und ohne territorialen Zusammenhang an den Bodensee.

Da ist es nun schade, dass eine Untersuchung der konfessionellen Struktur der einzelnen Distrikte des Juras und der Gemeinden unterbleibt. Die seit den 1950er-Jahren zu beobachtende Zunahme der Mobilität, die sich in den letzten Jahren rasant beschleunigt, hat das konfessionelle Gefüge der Schweiz umgekrempelt. Es gibt längst nicht mehr reformierte und katholische Kantone, sondern nur noch grössere oder kleinere konfessionelle Mehr- und Minderheiten. Wie tritt uns diese Entwicklung im Jura entgegen? Man darf wohl vermuten, dass die Entwicklung zur konfessionellen Gemengelage im Jura etwas langsamer verläuft als andernorts. Traditionell wurde die Abgrenzung des Nordjuras, implizit also die separatistische Bewegung teilweise damit erklärt, dass dieser Teil des Juras sich in einer doppelten Minderheitenposition befand oder noch befindet. Einerseits als sprachliche Minderheit im Rahmen des Kantons Bern, andererseits auch als konfessionelle Minderheit. Der Südjura, also der heutige Berner Jura, befindet sich nur sprachlich, nicht aber konfessionell in einer Minderheitenposition. So wäre eine Untersuchung einer allfälligen konfessionellen Dynamik recht interessant. Das Gleiche gilt natürlich für allfällige Veränderungen der sprachlichen Zusammensetzung der Bevölkerung. Deren Dynamik am Jurasüdfuss ist bekannt. Die Bieler Zweisprachigkeit verdankt sich zu einem guten Teil der Ansiedlung von jurassischen Uhrenarbeitern in Biel in den 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts. Der neulich aufgeflammte Schulstreit in Nidau ist letztlich auf die Tatsache zurückzuführen, dass Nidau heute rund 20% französischsprachige Bewohner hat. Hebelt die rasant zunehmende Mobilität das bisher geltende sprachliche Territorialprinzip aus? Und wie steht es am Nordrand der jurassischen Region? Frisst sich die deutschsprachige Agglomeration Basel langsam und unbemerkt in französischsprachiges Territorium?

Da treten auch die Pendlerströme ins Blickfeld, wobei Stärke und Richtung interessieren. Wie veränderten sie sich im Lauf der modernen Geschichte seit ungefähr 1880? Wie stark ist der wirtschaftliche Sog der am Rand der Region gelegenen Zentren Basel, Belfort und Biel? Wie ist das Verhältnis zwischen Zupendlern und Wegpendlern, das vom Arbeitsplatzangebot gesteuert wird?

Genug Fragen also, deren Beantwortung in einem zweiten Atlasband erfolgen könnte. Es ist zu hoffen, dass er in Angriff genommen wird.

Eine Kritik, welche die Qualität des Werkes aber keineswegs mindern soll, muss angebracht werden beim Kapitel Topographie. Dem umsichtigen und präzisen «Aperçu géographique de l’espace jurassien» wird der Ausschnitt aus der doch recht banalen Landeskarte im Massstab 1:500 000 überhaupt nicht gerecht. Geologie, Tektonik, Morphologie, Klima, Gewässer und Pflanzenkleid prägen einen Raum als Bühne für menschliches Dasein und Entfaltung einer Gesellschaft. Das hätte ausführlicher kartografisch dokumentiert werden müssen.

Die «Jurafrage» soll entpolitisiert werden mit einer neuen Sicht auf diese geschichtsträchtige und interessante Region. Ist das gelungen? Ja, zum Teil sicher. Aber ist da nicht eine Gelegenheit verpasst worden? Wer die Region Jura definiert, wie es die Autoren des Atlas tun, mit den Eckpunkten Biel, Belfort und Basel, anerkennt, dass der Jura als historische Region ein zweisprachiges Gebilde ist, was impliziert, dass der Band auch zweisprachig (mindestens in den Kartenlegenden) daherkommen müsste. Dies auch aus einem zweiten Grund: Dem ausgezeichneten Werk wäre eine weite Verbreitung auch in der Schweiz ausserhalb der Romandie zu wünschen.

Zitierweise:
Christoph Zürcher: Rezension zu: Atlas historique du Jura. Publié sous la direction de Clément Crevoisier. Préface de Dick Marty. Société jurassienne d’émulation. Cercle d’études historiques. Porrentruy 2012. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 76 Nr. 3, 2014, S. 69-72.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 76 Nr. 3, 2014, S. 69-72.

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